Russisches München: Leben im Exil

„…Hier, zwischen deutschen Fassaden und bayerischen Laternen, klingt die russische Sprache wie am Twerskoi-Boulevard. Doch statt des stürmischen Moskaus – die Alpen am Horizont und eine stille Sehnsucht nach der Heimat.“
(aus einem Brief der Emigrantin A. Bachrach, 1923)

I. Ein neues Zuhause nach dem Zusammenbruch des Imperiums

Nach der Oktoberrevolution 1917 und dem darauffolgenden Bürgerkrieg verließen Tausende von Russen ihr Land. Europa nahm diese Emigrationswelle unterschiedlich auf: Paris wurde zum Zentrum der aristokratischen Emigration, Berlin der politischen – und München zu einem kulturellen und intellektuellen Zufluchtsort.

In den 1920er Jahren bildete sich in München eine russische Diaspora. Meist lebten sie in kleinen Wohnungen in der Nähe der Ludwig-Maximilians-Universität: ehemalige Professoren, Offiziere, Musiker und Dichter. Viele arbeiteten als Sprachlehrer, Korrektoren, Übersetzer – oder gründeten kulturelle Projekte von Grund auf.

II. Cafés, Bücher und Ballett

München in den 1920er Jahren war die Stadt der russischen Cafés, Druckereien und Ballettschulen. Besonders bekannt war das Café Stefanie in Schwabing, Treffpunkt für Künstler, Schriftsteller und politische Aktivisten. Dort diskutierte man Philosophie, Literatur und Nachrichten aus Russland.

Verlage und Zeitschriften wurden zum Herzstück des „russischen München“. Sie veröffentlichten Artikel über russische Philosophie, Kultur und Politik – oft im kritischen Dialog mit dem Bolschewismus. Die Herausgeber wollten zeigen, dass russische Kultur auch im Exil überleben kann.

Auch Musik- und Ballettabende wurden organisiert – improvisiert, aber aufrichtig. In städtischen Sälen erklangen Werke Rachmaninows, und junge Ballerinen führten Miniaturen im Stil des Mariinski-Theaters auf.

III. Universität und russisches Denken

Die Münchner Universität wurde zu einer inoffiziellen Bühne für den russischen Intellekt. Russische Dozenten und Studenten nahmen an Seminaren teil, übersetzten deutsche Werke, hielten Vorträge über Russlands Schicksal. Einige hielten sogar selbst Vorlesungen – wenn auch mit begrenztem Status.

Doch entgegen mancher Darstellungen waren Iwan Lapschin und Boris Jakowenko – bekannte russische Philosophen – nicht eng mit München verbunden: Lapschin lebte in Prag, Jakowenko in Italien und später in der Tschechoslowakei.

IV. Alltag im Exil

Das Leben im russischen München war nicht leicht. Viele Emigranten lebten in Armut, mit Holzöfen, wenig Geld und einfachen Mahlzeiten. Dennoch bewahrten sie ihre Würde. Frauen trugen alte Militärmäntel, um nicht zu frieren. Männer bewahrten Manuskripte in Blechkisten auf – aus Angst vor Feuer. In den Wohnungen erklang Musik vom alten Klavier, an den Wänden hingen Zeitungsausschnitte aus Vorkriegszeiten.

Das Wichtigste war das Gefühl der Gemeinschaft. Die Russen gingen in der Menge nicht verloren. Sie halfen einander, tauschten Bücher, feierten Weihnachten, gedachten an Puschkins Geburtstag, erinnerten sich an Freunde in Leningrad – und träumten von einer Zukunft, auch wenn sie nicht in Russland lag.

V. Der Untergang des „russischen München“

Mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus wurde das Klima in Deutschland feindseliger. Vor allem russische Emigranten jüdischer Herkunft oder mit liberalen Ansichten mussten München verlassen. Viele wanderten nach Frankreich, in die USA oder Palästina aus. Bis 1939 war von der einst lebendigen russischen Kolonie kaum noch etwas übrig. Es blieben Bücher, Fotos, Briefe – und eine Spur im kulturellen Gedächtnis Deutschlands.

Das München der 1920er Jahre war nicht nur ein geografischer Ort, sondern ein Zufluchtsort russischer Kultur. Hier lebten Menschen, die ihr Land verloren hatten, aber nicht ihre Stimme. Sie dachten, schrieben, lehrten, schufen – im Exil, doch mit dem Glauben daran, dass Russland mehr ist als ein Ort: Es ist Sprache, Geschichte und Geist.

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