
„Farbe ist die Taste, das Auge der Hammer, die Seele das Klavier mit vielen Saiten.“
— Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 1912
I. Ankunft in der Stadt der Künstler
Im Jahr 1896 kam Wassily Kandinsky nach München, nachdem er eine erfolgreiche Karriere als Jurist und Dozent in Moskau aufgegeben hatte. Mit 30 Jahren entschied er sich, sich ganz der Malerei zu widmen. Zunächst besuchte er die private Kunstschule von Anton Ažbe, bekannt für ihre progressive Methodik und Betonung individueller Ausdrucksformen.
1900 wurde Kandinsky an der Kunstakademie München aufgenommen, wo er bei Franz von Stuck studierte, einem bedeutenden Vertreter des Symbolismus.
München war Ende des 19. Jahrhunderts ein Zentrum des künstlerischen Lebens in Europa und zog Maler, Musiker und Philosophen aus aller Welt an. In dieser Atmosphäre entwickelte Kandinsky seine einzigartige Bildsprache, beeinflusst von der russischen Volkskunst und dem europäischen Jugendstil.
II. Akademie und erste Ausstellungen
Nach seinem Abschluss an der Akademie engagierte sich Kandinsky aktiv im Münchner Kunstleben. 1901 gründete er die Künstlergruppe Phalanx, organisierte zahlreiche Ausstellungen und eröffnete eine eigene Malschule, an der er selbst unterrichtete.
In dieser Zeit lernte er die Künstlerin Gabriele Münter kennen, die seine Lebensgefährtin und künstlerische Wegbegleiterin wurde. Gemeinsam reisten sie durch Europa, studierten verschiedene Kunstströmungen und sammelten Volkskunst.
III. Die Geburt der Abstraktion in München
1910 schuf Kandinsky sein erstes abstraktes Aquarell, das als eines der frühesten Werke der abstrakten Kunst gilt. 1911 gründete er gemeinsam mit Franz Marc die Künstlergruppe Der Blaue Reiter, deren Ziel es war, eine neue, spirituelle und ausdrucksstarke Kunst zu fördern.
Im selben Jahr veröffentlichte Kandinsky sein theoretisches Hauptwerk Über das Geistige in der Kunst, in dem er seine Auffassung von der Rolle der Kunst in der Gesellschaft darlegte. Seine Ideen prägten das Schaffen anderer Mitglieder des Blauen Reiters, darunter Paul Klee, August Macke und viele mehr.
Die Ausstellungen des Blauen Reiters 1911 und 1912 in München waren Meilensteine in der Entwicklung der europäischen Moderne.
IV. Nach dem Krieg: Rückkehr nach Deutschland
Mit Beginn des Ersten Weltkriegs musste Kandinsky Deutschland verlassen und kehrte nach Russland zurück, wo er sich am Aufbau des neuen Kunstwesens beteiligte und am Institut für Künstlerische Kultur (INChUK) lehrte.
1922 kehrte er auf Einladung von Walter Gropius nach Deutschland zurück und trat dem Lehrkörper des Bauhauses in Weimar und später in Dessau bei. Dort unterrichtete Kandinsky Farb- und Formenlehre und prägte nachhaltig die moderne Gestaltung und Architektur.
Bis zur Schließung des Bauhauses 1933 war Kandinsky dort tätig. Danach emigrierte er nach Frankreich, wo er bis zu seinem Tod weiter arbeitete.
V. Bilder, Liebe und Erinnerung: Die Geschichte von Gabriele Münter
Als im Jahr 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, musste Kandinsky als russischer Staatsbürger Deutschland verlassen. Seine langjährige und komplexe Beziehung mit Gabriele Münter zerbrach – zunächst vorübergehend, dann endgültig. 1916 heiratete er in Russland Nina Andrejewskaja, was Münter später erfuhr.
Doch in dem gemeinsamen Haus in Murnau, wo sie zusammen gelebt und gearbeitet hatten, blieben Dutzende seiner Werke zurück. Gabriele Münter bewahrte sie – zunächst vor der Zeit, dann vor dem nationalsozialistischen Regime, das Kandinsky als „entarteten Künstler“ verbot und seine Werke zur Zerstörung freigab.
Später versuchte Kandinsky, die Werke zurückzufordern – doch Münter gab sie ihm nicht. Und rückblickend war das ein Glück für die Welt:
1957, zu ihrem 80. Geburtstag, schenkte sie der Stadt München mehr als 90 Ölgemälde, etwa 330 Aquarelle, Zeichnungen und Druckgrafiken sowie Kandinskys Archiv. Diese Sammlung ging an das Lenbachhaus, das damit zur weltweit bedeutendsten Sammlung des „Blauen Reiters“ und Kandinskys wurde.
Jeder von ihr gerettete Pinselstrich wurde Teil des kulturellen Gedächtnisses Europas.
München spielte eine entscheidende Rolle in der Entwicklung Kandinskys als Künstler und Theoretiker. Hier wandelte er sich vom realistischen Maler zum Pionier der Abstraktion, entwickelte seine philosophischen Konzepte und wurde zu einer Schlüsselfigur der Avantgarde.
Kandinsky kam als russischer Jurist nach München — und ging als einer der Begründer der abstrakten Kunst, dessen Einfluss die Kunst des 20. Jahrhunderts maßgeblich prägte.