Warum schauen Touristen am Marienplatz nach oben, und Bayern aufs Handy?

Touristen am Marienplatz schauen auf das Glockenspiel

Jeden Tag spielt sich im Herzen von München, am Marienplatz, eine fast theatralische Szene ab: Touristen verlangsamen ihren Schritt, heben die Köpfe und bleiben stehen. Die Einheimischen hingegen gehen unbeirrt weiter – immer öfter mit dem Blick auf den Bildschirm ihres Handys. Doch wer hat recht? Und was passiert da oben, das die Bayern scheinbar gar nicht mehr wahrnehmen?

Glockenspiel – nicht nur ein Wort, sondern eine echte Show

Im Turm des Neuen Rathauses (Neues Rathaus) ertönt täglich um 11:00, 12:00 und im Sommer auch um 17:00 Uhr das berühmte Glockenspiel – ein Wahrzeichen Münchens, fast so bekannt wie Bier und Brezn. 43 Glocken und 32 Figuren erzählen zwei bayerische Geschichten: die Hochzeit von Herzog Wilhelm V. und den Schäfflertanz, der den Sieg über die Pest symbolisiert. Begleitet wird das Ganze von einer Melodie und dem gemächlichen Drehen der hölzernen Figuren.

Für Touristen ist das ein faszinierendes Schauspiel: fast wie ein lebendiges Puppentheater, aber in mehreren Etagen Höhe. Kameras klicken, Hälse recken sich, Kinder quietschen vor Freude – und für ein paar Minuten bleibt die Welt stehen.

Und die Bayern? Die haben das schon oft gesehen

Für die Münchner ist das Glockenspiel wie ein alter Witz, der in den 90ern mal lustig war. Oder wie der Vorspann einer Serie, den man ab der zehnten Folge überspringt.

— „Ach, der Herzog heiratet wieder... Na gut. Wo ist mein Kaffee?“
— „Schäfflertanz? Die könnten lieber Bier ausschenken!“

Wer in Bayern aufgewachsen ist, hat das Glockenspiel mindestens 15 Mal gesehen. Und mit Schulführungen sogar 50 Mal. Deshalb checken die Einheimischen bei den ersten Glocken lieber WhatsApp, lesen Nachrichten oder suchen den nächsten Biergarten mit WLAN.

Der Blick nach oben als Metapher

Man könnte sagen: Touristen schauen nach oben, weil alles neu für sie ist, und Bayern schauen aufs Handy, weil sie nach etwas Neuem suchen. Die einen sind auf der Suche nach Emotionen, die anderen nach Terminen, Meetings oder dem nächsten Zug. Jeder lebt in seiner eigenen Realität – auch auf demselben Platz.

Und doch: Wenn Sie sehen, wie jemand mit Münchner Tasche plötzlich stehen bleibt und ebenfalls nach oben schaut – wundern Sie sich nicht. Vielleicht ist es einfach ein Einheimischer, der sich einmal nicht beeilen will. Oder er zeigt gerade Freunden die Stadt. Oder – wer weiß – wollte einfach mal wieder die tanzenden Schäffler sehen.

Glockenspiel und Alltag – zwei Rhythmen auf einem Platz

Der Marienplatz ist ein besonderer Ort, an dem jahrhundertealte Geschichte und heutiger Alltag Hand in Hand gehen. Das Glockenspiel erklingt pünktlich zur vollen Stunde – doch das Leben rundherum folgt seinem eigenen Rhythmus. Touristen dokumentieren jede Minute begeistert, Einheimische leben im „Hier und Jetzt“, wo eine Benachrichtigung oft wichtiger ist als eine Glocke.

Fazit? Manchmal tut es gut, Tourist in der eigenen Stadt zu sein. Besonders, wenn wieder eine Melodie vom Turm erklingt und die hölzernen Figuren zu tanzen beginnen. Schließlich sieht man nicht jeden Tag eine herzogliche Hochzeit – in 85 Metern Höhe.

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